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Natur erkunden auf die smarte Tour

Früher habe ich die Augen gerollt über Leute, die ständig ihr Smartphone in Griffweite haben, heute gehöre ich selbst zu dieser Sorte. Wann immer ich zum Beobachten rausgehe – und sei es nur zu einer kurzen Runde durchs Dorf – nehme ich mein digitales Allzweckwerkzeug ebenso selbstverständlich mit wie mein Fernglas. Allerdings nutze ich es nicht zum Chatten oder Rumscrollen (wobei, zugegeben, gelegentlich auch dazu), sondern um die Natur um mich herum noch besser kennenzulernen. Das geht heute dank Smartphones so leicht wie nie zuvor. „Leicht“ in doppeltem Sinne.

Wenn ich damals, zu analogen Zeiten, auf Naturexkursion ging, hatte ich oft eine halbe Bibliothek dabei: Vogel- und Pflanzenbestimmungsbuch, beide hunderte Seiten dick, dazu manchmal noch ein spezieller Naturführer der Region, in der ich gerade unterwegs war.

Zwei leuchtend kornblumenblaue, fünfblättrige Blüten, zwischen zwei Fingern gehalten
Frühlings-Nabelnüsschen © J.Romberg

Die Touren dauerten meist deutlich länger als geplant, weil unterwegs ständig geblättert und gerätselt werden musste: Gehört diese Pflanze zur Rubrik „Kreuzblütler“ oder „Raublattgewächse“? Entspricht dieser Vogellaut dem „füit, tick tick“, mit dem das Bestimmungsbuch den Warnruf des Gartenrotschwanzes beschreibt? Und wieso ist dieser hinreißend bunte Käfer gar nicht im Buch verzeichnet?

 

Oft blieben die Fragen offen – Vogellaute lassen sich kaum in Menschensprache transkribieren, ein halbwegs handlicher Botanikführer umfasst immer nur einen kleinen Bruchteil der im Gebiet vorkommenden Arten, und von Insekten fange ich gar nicht erst an.

Lilarote Blütenkerzen am Rand eines üppig bewachsenen Straßengrabens
Blutweiderich am Straßengraben © J.Romberg

Heute aber – simsalabim! – ist die Natur zu einem offenen Buch geworden, dank der digitalen Zaubertechnik. Da leuchtet was Lilarotes im Straßengraben, schnell Handy rausgeholt, Fotos gemacht von Blüte und Blättern, ein paar Klicks, und wusch! steht ein Name auf dem Schirm: Lythrum salicaria, Blutweiderich, bestimmt mit 99prozentiger Sicherheit. Noch ein Klick, und es folgt eine minuziöse Beschreibung der Pflanze sowie Infos zu ihrer Verbreitung, ihren Biotop-Ansprüchen und häufigsten Bestäubern.

 

Flora incognita, birdnet, obsidentify, inaturalist – diese und andere Apps (die genannten sind alle kostenlos) verleihen selbst naturkundlich ahnungslosen Spaziergängern die Superkraft, fast jedem Lebewesen am Wegrand einen Namen geben zu können. Mehr noch: Sie erzählen die Geschichten zu den Namen, die erkennen lassen, was die Eigen-Art des jeweiligen Lebewesens ausmacht, welche Funktion es in seinem Ökosystem hat. Umgekehrt leisten die registrierten Nutzer der Apps einen kleinen Beitrag für die Wissenschaft, denn die gesammelten Daten liefern wertvolle Hinweise etwa darauf, wie sich unsere Natur verändert, wie sich etwa der Klimawandel auf das heimische Artenspektrum auswirkt.

Screenshot des Sonogramms einer Tonaufnahme, darunter drei identifizierte Vogelarten: Buchfink, Amsel und Neuntöter
Vogelstimmenanalyse mit Merlin Bird ID

Die meisten Apps bestimmen anhand von Fotos; einige nutzen dazu die Schwarmintelligenz von Naturbeobachter(inne)n, die über Fachwissen zu speziellen Artengruppen verfügen – etwa Wildbienen, Pilzen oder Schnecken. Bei den mit Abstand beliebtesten Beobachtungsobjekten hilft die Kamera allerdings meist nicht weiter: Vögel lassen sich leichter anhand von Tonaufnahmen ihrer Stimmen identifizieren. Birdnet und Merlin Bird ID leisten das sehr zuverlässig auch dann, wenn mehrere Arten durcheinander singen.

 

Das jedenfalls haben mir befreundete Vogelkenner berichtet. Ich selbst nutze diese Apps nicht, weil ich mich lieber auf meine „eingebaute“ Stimmenerkennungs-Software verlasse. Die ist gründlich trainiert, weil ich das Vogelbestimmen noch in vordigitalen Zeiten gelernt habe. Das war mühsam, aber es hat mir auch einen direkten Draht zur Natur erschlossen, den ich nicht missen möchte.

Außerdem hat mein gut geschultes Gehör den Vorteil, dass es auch dann funktioniert, wenn ich mein Smartphone ausnahmsweise mal zuhause vergessen habe. 

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